von Robert Lorenz
Seit einiger Zeit begeistern sich politische Entscheidungsträger der Stadt Bautzen für das Projekt einer Fußgängerbrücke, die in west-östlicher Richtung die Skala der Spree bei Bautzen von Talabhang zu Talabhang überspannen soll, um so eine fast horizontale, direkte Verbindung zwischen dem Schliebenparkplatz und der Ortenburg herzustellen. In diesem Text sollen Argumente dafür geliefert werden, wieso dieses Projekt aus meiner Sicht fallen gelassen werden sollte. Dabei werde ich meine Thesen in zwei Blöcken arrangieren. Der erste befasst sich mit Bautzen als historisch gewachsener Stadtlandschaft.
Bautzen als Landschaft
Städte sind vertikale Geschichtsbücher. Ihre Häuser, Straßenzüge und Plätze formieren sich zu je eigenen Stadträumen, wirtschafts- und machtgeschichtlich klassifizierbar, doch atmosphärisch immer einzigartig und nicht wiederholbar. Städte haben je eigene Ausdehnungsrichtungen. Sie folgen Flusstälern, schmiegen sich an Berghänge, in Meeresbuchten, auf Halbinseln – um die Topografie mitunter zu überwinden und in ihren Tiefen zu verbergen wenn sie Großstadt werden. Ihre Stadtpläne lassen sich lesen wie unsere Biografien. Die verwendeten Baumaterialien ihrer Häuser, Lichtfall, Windrichtungen, überhaupt das vorherrschende Klima machen jede von ihnen zu eigenständigen Konstellationen im Raum. Es gibt kaum ein größeres Vergnügen, als zu Fuß eine unbekannte Stadt zu durchwandern und nach einiger Zeit zu bemerken, wie man ein Verständnis für sie entwickelt. Es ist wie ein Gespräch mit einem Unbekannten, an dessen Ende Vertrautheit entstanden ist.
Bautzen ist eine Stadt an einer Schlucht. Ganz im Westen hat die Spree einen Mäander in den Granit des Lausitzer Gefildes gegraben, eine Skala, eingefasst von Felswänden. Auf einem dieser steinernen Umlaufberge liegt die Burg und östlich in ihrem Schatten die Burgstadt. Erst dahinter, noch weiter östlich schließt sich der eigentliche Marktflecken an, aus dem später die reiche Kaufmannsstadt werden sollte. Die alte Kaufmannsstraße zieht nördlich an diesem Burgfelsen vorbei, quert den Fluss und steigt ostwärts über die Gerberstraße aus dem Tal hinauf. Die zweite Handelsstraße aus dem späten 19. Jahrhundert überwindet die Schlucht über die massive Friedensbrücke südlich des Burgfelsens. Wo beide Straßen den Höhenzug östlich über dem Fluss erreichen, bilden sie die Pole des sich dazwischen aufspannenden Bautzener Geschäftsviertels. Seine Außengrenze bilden der Straßenring Goschwitzstraße – Postplatz – Kurt-Pchalek-Straße – Steinstraße – Holzmarkt – Töpferstraße – Wendische Straße – Fleischmarkt – Innere und Äußere Lauenstraße. Sein Herz schlägt am Lauengraben, wo die Friedensbrücke einmündet, mit starken Arterien am Kornmarkt, in der Reichenstraße und der Karl-Marx-Straße. Von diesem Geschäftsviertel aus ist Bautzen vor allem nach Süden zum Bahnhof und über ihn hinaus und nach Osten zu den einstigen Garnisonen hin gewachsen – und in kleinerem Umfang auch nach Norden (den Gesundbrunnen als sozialistische Stadterweiterung einmal außen vor). Westlich der Schlucht jedoch hat erst die Friedensbrücke im frühen 20. Jahrhundert eine kleine und bis heute etwas zaghaft wirkende Stadterweiterung ermöglicht. Doch kann sie nicht darüber hinwegtäuschen, das Bautzen noch heute eigentlich erst östlich der Felsschlucht beginnt. Von der breiten Brücke aus fällt bei der Fahrt hinüber der Blick dann eindrucksvoll auf die stadtgewordene, steinerne Flussschleife über der Spree mit ihren Zinnen, Dächern und Türmen. Doch dieser Teil der Altstadt war nie ihr Zentrum. Er war ein Zwischenraum zwischen Burg und Kaufmannsstadt, gehörte in Teilen im Burglehn nicht einmal zum Rathaus. Bautzen kehrt dieser Burgstadt den Rücken zu, einzig der Domturm ragt über sie hinweg in Richtung Burg. Nur die Schlossstraße versucht räumlich wie optisch eine Vermittlung zwischen Burg und Stadt, muss sich aber schon nach wenigen Metern um Ecken und durch Winkel am Dom vorbei winden, um irgendwie doch noch den Fleischmarkt mit dem Rathaus zu erreichen. Die westliche Altstadt zwischen Burgmauer und Marktplatz auf dem Umlaufberg über der Spree liegt seit Jahrhunderten in weiten Teilen sehr malerisch im Off. Nachvollziehbar, hier fiel der Schatten des Landesherrn auf die Dachfirste, da wuchs man als selbstbewusstes bürgerliches Gemeinwesen mit seiner Handelsinfrastruktur lieber weg von Schlucht und Fels und Burg nach Osten, wo Platz war. Und erst recht war kein Grund vorhanden, die Höhen westlich der Schlucht, hinter der Burg zu bebauen. Bis heute reicht hier der Acker bis an den Abhang der Spree.
2009 eröffnete am Rand dieses Ackers der Schliebenparkplatz. Pendler parken hier, der Fernbus und Touristen. Zu Fuß ist man über die Friedensbrücke in fünfzehn Minuten am Lauengraben, das eindrucksvolle Panorama der Burgstadt auf ihrem Felsen inklusive. Auch hinunter zur Spree an den Fuß der mächtig aus dem Fels emporwachsenden Alten Wasserkunst sind es kaum zehn Minuten.
Dies alles umgehend soll nun von diesem Acker aus der neue Stadtzugang hinübergespannt werden, auf der anderen Seite die Burgmauer durchbrechen, die Stadt quasi von hinten entgegen ihrer jahrhundertealten Wachstumsrichtung vom Ende her aufrollen. Eine Brücke als Event. Es werden zwar von ihren Befürwortern Gründe angeführt, die ihre Errichtung auch für die Stadtentwicklung plausibel machen sollen. Doch so recht verfangen können sie bei mir nicht. Welchen Grund soll eine Stadt haben, ihre Gäste nicht im Zentrum zu empfangen (das angesichts zunehmenden Leerstands jeden einzelnen Besucher braucht), sondern sie am Stadtrand abzufangen und erst einmal zu Fuß durch die Peripherie zu schicken? Über Jahrhunderte hinweg hat Bautzen alle Kraft darauf verwendet, sein städtisches Gemeinwesen glanzvoll von der Burg wegzudrehen und seine Gäste und Kundschaft in seine breiten Handelsstraßen zu lenken. Nun sollen die Besucher erst einmal das komplette, beinahe gänzlich geschäftsfreie Kleinstadtambiente und Gassengewirr der Burgstadt durchqueren, bevor sie die baulichen Räume der freien Stadtluft erreichen. Ausgerechnet die Ortenburg (und noch dazu ihre Kehrseite) soll das Entree Bautzens bilden, die – seien wir ehrlich – als Burganlage vom Burghof aus betrachtet ziemlich unspektakulär ist und die die stolzen Stadtväter aus der Hochzeit des Sechsstädtebundes wohl am liebsten geschliffen hätten. Als Tourist würde ich mich fragen, was die Bautzener eigentlich von mir wollen und wo ihre Stadt ist. Einzig das Sorbische Museum hätte wohl Grund zur Freude. Immerhin. Runter von der Autobahn, kostenloser Parkplatz in Sichtweite der Abfahrt, schweißbefreit (außer bei Höhenangst oder dem im Spreetal typischen starken Wind von den Bergen her) kurz hinüber in die Burg, sorbische Kultur anschauen und vielleicht ein bisschen in die Kneipen der Schlossstraße. Ein Rathaus, der Reichenturm? Die berühmten Stadtpanoramen von Norden und Süden? Wo sollen die sein? Wie komme ich da hin? Zurück zum Auto und wieder auf die Autobahn weiter nach Görlitz. Deswegen muss am Schliebenparkplatz wohl auch gleich ein Infozentrum mit geplant werden, wo bei einem stadthistorisch gewachsenen und daher wirtschaftlich begründeten Stadtzugang schlicht der gebaute Stadtkörper die Wegeleitung ins Zentrum übernimmt und dabei dem Gast seine Schauseiten zuwendet. Und ob die Zahl der Bewohner des Burgfelsens, die künftig ihr Auto jenseits der Schlucht parken, um dann ihr Gepäck erst durch Wind und Wetter und dann über Stock und Stein zu Fuß nach Hause zu tragen, diesem Bauwerk wirtschaftliche Plausibilität verleiht, erscheint mir recht fraglich. Was bleibt, sind neben einigen Angestellten des Gerichts die Besucher des Eierschiebens am Protschenberg und des Sommertheaters im Burghof. Womit der Kreis sich schließt und wir wieder beim Event sind. Was werden sich wohl künftige Generationen über unsere Entscheidung denken, vor dem westlichen Stadtpanorama einen großen Parkplatz anzulegen und mitten in dieses Panorama einen Stadtzugang hineinzuhängen, wo keiner ihn benötigt oder vermisst? Heute denke ich jedenfalls, dass wir hiermit nur unsere Ideenlosigkeit dokumentieren. Uns fällt zu Bautzen anscheinend nichts Besseres ein, als es architektonisch zu eventisieren. Ausgerechnet an seiner Schauseite, die so eine Geste gar nicht nötig hat. Wir hängen eine architektonisch banale Fußgängerbrücke über diese majestätische Schlucht und demolieren mit ihr zugleich noch den jahrhundertealten baulichen Charakter Bautzens als Festung. Und all das für die bessere fußläufige Anbindung eines überdimensionierten Parkplatzes.
Mit dem Panorama bin ich bei Punkt 2 angelangt.
Bautzen in der Landschaft
Bautzens westlicher Stadtrand. Die tiefe Schlucht, in sie geduckt die kleine Häuserzeile Unterm Schloss. Der durch den Fels rauschende Fluss, das Grün der Bäume, die den Abhang hinauf zum Feldrand klettern, wo sie plötzlich in Wind und Weite stehen. Drüben die mächtigen Bollwerke der Burg und die über sie hinweg ragenden Türme der Händlerstadt. Durch die Schlucht steigen Treppen heimlich hinauf und hinab, von denen sich immer wieder neue Ausblicke bieten. Eine einzigartige Szenerie.
Der Blick vom Protschenberg ist nicht einfach nur Bautzens schönstes Postkartenmotiv. Er ist ein Seelenort dieser Stadt. Zittau hat mit dem nahen Kranz der Berge die wohl schönste oberlausitzer Lage in der Landschaft, Görlitz mit den Hallenhäusern, seinen Kirchen und der mondänen Gründerzeit die eindrucksvollste Architektur – doch Bautzen hat seine Schlucht und seine Mauern und Zinnen über ihr. Der tiefe Abgrund und über ihm die wehrhafte, zunächst unzugänglich wirkende Stadt. Dieser einmalige Blick hat Künstler wie Jan Buk, Marianne Britze, Kito Lorenc und Rudolf Warnecke zu zentralen Werken ihrer Künstlerkarrieren inspiriert, die ihre Prägnanz genau aus der dramatischen Spannung dieses Ortes ziehen und in denen sie Bautzens Stadtcharakter befragen und bis in seine historische Tiefe hinein ausloten.
Vollständig wird die Besonderheit dieses Ortes aber erst durch einen zweiten Aspekt charakterisiert – das Aufeinandertreffen von mittelalterlicher Stadtgrenze und offener Landschaft, von Stadt und Nicht-Stadt. Hinter dem Protschenberg und gegenüber der Burg liegt – ein Feld. Keine gründerzeitliche Stadterweiterung, keine Neubaublocks, keine Stadtrandzone aus Autohäusern, Tankstellen, Super- und Baumärkten. Keine sich in die Wiesen ergießenden Eigenheime mit Carportlandschaften. Ein Friedhof. Eine Feldsteinmauer mit einer kleinen Kapelle. Ein paar einzelne, schön gewachsene Bäume. Und ein Feld.
Das ist schön. Und es ist unter den Stadtlandschaften Europas sehr selten. Mir fällt Salzburg mit dem Mönchsberg ein, von dessen Höhe man die stolzen Kirchtürme der Stadt beinahe greifen kann. Freiburg, wo man fünf Minuten hinter der Altstadt im Schwarzwald steht. Venedig, wo der Markusplatz auf einer Seite von der Adria eingefasst wird. Der Strahov in Prag. Die Flusswiesen der Elbe vor dem Altstadtpanorama Dresdens.
Man sollte sich als Stadtwesen über solch einen seltenen Ort freuen und ihn schützen. Und wenn man ihn der Bebauung übereignet, dann, weil die Notwendigkeit groß ist und die Idee für diese Bebauung sehr gut. Beides trifft auf den Bautzener Fall nicht zu. Vielmehr soll das Feld und die offene Landschaft hier der wohl größten Banalität weichen, die sich denken lässt – einer Parkplatzerweiterung. Die einzigartige westliche Stadtansicht – ergänzt um einen Großparkplatz im Vordergrund. Selbst wenn man hier mit der Begrünung klug arbeitet, bleibt am Ende eine weitere Blechwüstenei, die man sich an Bautzens östlichen Stadträndern in den Gewerbegebieten in aller Ruhe betrachten kann.
Ich hoffe wirklich sehr, dass uns allen noch etwas Besseres für unsere schöne Stadt einfällt.
(Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf https://brotlos.weebly.com am 18.10.2017)